Seit einigen Jahren ist es ein Dauerthema: Menschen mit Trisomie 21, aber auch mit anderen kognitiven Einschränkungen, werden häufig beim Vollenden des 18. Lebensjahres die Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis (SBA) entzogen und der Grad der Behinderung (GdB) heruntergestuft. Die äußerst dumme und medizinisch wie biologisch absurde Begründung: „Morbus Down hat sich gebessert“. Auch scheint uns die Beurteilung willkürlich – die Entscheidung, ob eines unserer „Kinder“ sinnvolle Merkzeichen und einen angemessenen GdB erhält, ist offensichtlich der Tagesform von Sachbearbeiter*innen unterworfen.

Die Strategien für den Widerspruch, die wir in unseren Beratungsgesprächen geben, haben lange gut funktioniert, doch seit einiger Zeit stellt sich das Versorgungsamt oft dauerhaft stur und reagiert nur mit Verlängerungen um ein paar Monate. Eine Zermürbungsstrategie, bis Eltern und andere Betreuungspersonen entnervt aufgeben?

Da die Zahl der Fälle stetig steigt und wir uns als bedeutendes Organ der Behindertenhilfe nun endlich eine Klärung des Sachverhaltes wünschen, haben wir im Februar 2023 einen offenen Brief an die bayrische Sozialministerin verfasst:

Offener Brief Sozialministerium SBA

Dieses Schreiben ging nicht nur an die Chefin des Sozialministeriums, sondern auch an den Behindertenbeauftragten der bayrischen Staatsregierung sowie den Leiter des Versorgungsamtes/ZBFS, Herrn Dr. Norbert Kollmer.

Fragen des Behindertenbeauftragten

Nachdem wochenlang keine Reaktion erfolgte, antwortete am 9.3.2023 der Referent des Behindertenbeauftragten der Staatsregierung mit einem Fragenkatalog:

„Sehr geehrter Herr Consée,

vielen Dank für Ihre Nachricht. Herr Kiesel bat mich, Ihnen zu antworten.

Wir würden uns gerne weitere Gedanken über die von Ihnen beschriebene Situation machen, hätten zunächst aber vier Fragen:

  1. Haben Sie den Eindruck, dass bei den Festsetzungen nach Eintritt der Volljährigkeit die verfahrensmäßigen Rechte gewahrt bleiben (insbesondere im Hinblick auf die Anhörung der Betroffenen)? Falls nein, könnten Sie es für uns näher spezifizieren, wo Sie hier konkrete Defizite sehen?
  2. Können Sie ungefähr sagen, um wie viele Fälle es geht? Und ist eine Häufung seit einem bestimmten Zeitraum erkennbar, oder handelt es sich Ihrem Eindruck nach letztlich um ein schon sehr lange bestehendes Problem? Gibt es zudem eine gewisse regionale Fokussierung, oder handelt es sich aus Ihrer Sicht um eine bayernweite Situation?
  3. Gab es vor diesem Offenen Brief an die Staatsministerin von Ihrer Seite bereits eine grundsätzliche Problemanzeige an das ZBFS? Oder hat die Verständigung – wie in dem letzten Absatz des Schreibens beschrieben – bisher nur auf Ebene anderer Organisationen der Behindertenhilfe, dem Behindertenbeirat sowie dem kommunalen Behindertenbeauftragten stattgefunden?
  4. Liegt Ihnen bereits eine Antwort des StMAS vor?

Mit besten Grüßen

Dr. Stephan Gerbig, LL.M.

Referent der Geschäftsstelle“

Dies beantworteten wir umgehend, am 12.3.2023, folgendermaßen:

„Sehr geehrter Herr Dr. Gerbig,

vielen Dank für Ihre Antwort. Sehr gerne antworte ich Ihnen auf Ihre Fragen.

1) Haben Sie den Eindruck, dass bei den Festsetzungen nach Eintritt der Volljährigkeit die verfahrensmäßigen Rechte gewahrt bleiben (insbesondere im Hinblick auf die Anhörung der Betroffenen)? Falls nein, könnten Sie es für uns näher spezifizieren, wo Sie hier konkrete Defizite sehen?

Insbesondere im Hinblick auf die Anhörung der Betroffenen sehen wir die Rechte nicht gewahrt. Im Allgemeinen wird den Antragstellern eine persönliche Anhörung mit dem Hinweis versagt, dass „die Angelegenheit auf dem Wege schriftlicher Kommunikation“ erledigt werden könne. Uns ist aus unserer Beratungstätigkeit lediglich ein einziger Fall bekannt, in dem ein persönliches Vorsprechen des Betroffenen ermöglicht wurde. In diesem Fall wurde im Anschluss der SBA mit dem vorherigen GdB und den entsprechenden Merkzeichen zunächst unbefristet ausgestellt, dies im Jahr darauf jedoch wieder zurückgenommen und auf sechs Monate befristet.

Darüber hinaus wird stets um Einblick in Schulzeugnisse und ähnliche Dokumente gebeten. Da Zeugnisse von Schülern mit starken kognitiven Einschränkungen, die unabhängig von der konkreten Schulform (auch) sonderpädagogisch betreut werden, stets sehr positiv formuliert sind, versagen viele Eltern und Betreuungspersonen ihre Einwilligung in die Einsichtnahme. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Wahrnehmung dieses Rechts auf den Schutz persönlicher Daten einen Baustein in der Kette verzögernder Maßnahmen bildet. Als Beispiel: Wenn ein Schüler in der 9. Klasse den Zehnerübergang begreift, werden ihm hervorragende mathematische Fähigkeiten bescheinigt, unabhängig davon, dass dies bei Schülern ohne kognitive Einschränkung 8 Schuljahre früher stattfindet.

Ein weiterer Punkt ist, dass das Versorgungsamt nachweisbar das Recht auf Teilhabe (sozial, kulturell, Arbeit) zu Ungunsten der Antragsteller auslegt. So wird etwa die Teilnahme an einer inklusiven Berufsvorbereitungsmaßnahme, die in den Räumlichkeiten einer städtischen Berufsschule stattfindet, als „Berufsschul-Ausbildung“ kategorisiert (obwohl die Maßnahme weder von der Idee her noch in der Praxis einer beruflichen Ausbildung gleichkommt). Benutzt der Schüler die öffentlichen Verkehrsmittel, so sieht das Versorgungsamt die Möglichkeit der freien und selbständigen Bewegung im öffentlichen Verkehr, ohne in Betracht zu ziehen, dass jeder neue Weg mehrfach von Eltern bzw. Betreuungspersonen eingeübt werden muss, und nur wenig Flexibilität möglich ist.

2) Können Sie ungefähr sagen, um wie viele Fälle es geht? Und ist eine Häufung seit einem bestimmten Zeitraum erkennbar, oder handelt es sich Ihrem Eindruck nach letztlich um ein schon sehr lange bestehendes Problem? Gibt es zudem eine gewisse regionale Fokussierung, oder handelt es sich aus Ihrer Sicht um eine bayernweite Situation?

Zur örtlichen Häufung: Unsere Erkenntnisse betreffen direkt hauptsächlich die Stadt München sowie die umliegenden Landkreise, das ist der regionalen Fokussierung unseres Vereins Down-Kind e.V. geschuldet. Allerdings sind wir Teil des bundesweiten Down-Syndrom-Netzwerk Deutschland e.V. und erhalten ähnliche Aussagen von unseren Partner-Organisationen aus beispielsweise Würzburg, Augsburg und Unterfranken.

Zur zeitlichen Einordnung: Während es vorher lediglich in Einzelfällen Probleme mit dem Versorgungsamt gab, sehen wir etwa seit 2016 eine deutlich sichtbare Steigerung der Beschwerden. Aktuell haben wir 48 Mitgliedsfamilien, deren Kinder zwischen 18 und 24 Jahren alt sind (also zwischen 1999 und 2005 geboren wurden). Lediglich bei 20 von diesen 48 konnten wir keine Nachfragen oder Beschwerden verzeichnen, allerdings besteht auch nicht in allen Fällen ein enger Kontakt/Austausch, und einige Eltern nutzen auch direkt die Rechtsberatung des VdK.

3) Gab es vor diesem Offenen Brief an die Staatsministerin von Ihrer Seite bereits eine grundsätzliche Problemanzeige an das ZBFS? Oder hat die Verständigung – wie in dem letzten Absatz des Schreibens beschrieben – bisher nur auf Ebene anderer Organisationen der Behindertenhilfe, dem Behindertenbeirat sowie dem kommunalen Behindertenbeauftragten stattgefunden?

Bereits im Jahr 2016 sprach der damalige Vorstand unseres Vereins im Verbund mit dem Vorstand des Behindertenbeirats mit der leitenden Ärztin des ZBFS, Frau Dr. Lorenz zu diesem Thema, und in unserer Beratungstätigkeit raten wir seit langem allen Betroffenen, ihren Vorgang innerhalb des ZBFS zu eskalieren. Wie viele Betroffene diese Möglichkeit nutzen, können wir nicht sagen. Aber Eltern weisen regelmäßig in ihren Widersprüchen schriftlich auf das Schreiben des Ministeriums vom 28.01.2019 (Drucksache 18/195) hin mit der Bitte um Stellungnahme des ZBFS, die aber ignoriert wird.

Grundsätzlich ist selbstverständlich der kommunale Behindertenbeauftrage immer eine der ersten Ansprechpersonen. Da uns das Problem inzwischen allerdings systemisch erscheint und die Zahl der Betroffenen immer weiter steigt, gehen wir nun den Schritt zu Ihnen bzw. zur Frau Staatsministerin.

4) Liegt Ihnen bereits eine Antwort des StMAS vor?

Nein, Ihre Antwort ist die erste Reaktion, die wir erhalten haben.

Ergänzend eine Anmerkung: In den letzten Monaten sehen wir auch eine steigende Zahl von Beschwerden bei der Erstbeantragung des SBA durch junge Eltern. Auch hier zeichnet sich ein ähnliches Muster ab. Kinder mit Trisomie 21 ab vollendetem ersten Lebensjahr erhalten einen SBA, allerdings häufig lediglich mit Merkzeichen H und geringem GdB. Der Verzicht auf das Merkzeichen B mag vielleicht bei Kleinkindern noch zu rechtfertigen sein, spätestens ab dem Alter von 6 Jahren spielt das jedoch eine große Rolle. Wir erwägen, uns auch in Bezug auf diese Fälle an höhere Stellen zu wenden.“

SBA offener Brief-Antwort Dr Gerbig

Endlich die Antwort des Ministerium am 21.3.2023:

Man beachte, dass die Antwort von Johanna Glöckl bzw. Ministerialrat Rudolf Forster „im Namen der Staatsministerin“ ausschließlich Bezug auf die Fragen des Behindertenbeauftragten und unsere Antworten darauf nimmt. Eigentlich ist das Amt des Behindertenbeauftragten der Staatsregierung kein Organ der Staatsministerin  – hier verhält sich der Beauftragte jedoch genau so, als Fragensteller für die Ministerin.

Consée Marcel Antwort

Nach einer ausführlichen Darlegung der Vergabekriterien (die nur bedingt mit den Regeln des Bundes im Einklang stehen – das ist Föderalismus in Bezug auf das SGB IX!) geht der Ministerialrat auf unsere Anmerkungen ein:

a) Datenschutz/Auskunftspflicht

Einleitend erwähnen Sie regelmäßige Verstöße gegen den Datenschutz und eine Verletzung der Auskunftspflicht, gehen darauf aber nicht näher ein. Deshalb können wir dazu im Einzelnen nicht Stellung nehmen.

Generell ist das ZBFS als Sozialbehörde zur Einhaltung eines hohen Datenschutzstandards verpflichtet und kommt dieser Verpflichtung auch nach.“

DK: Wir gehen deshalb darauf nicht ein, weil das nicht in direktem Zusammenhang mit der Vergabe des SBA steht. Da das ZBFS in seinen Schreiben jedoch regelmäßig darauf abzielt, Zugriff auf  Schulzeugnisse zu erhalten – die NICHTS mit den Kriterien des SGB IX zu tun haben, sehen wir nicht, dass das ZBFS seiner Verpflichtung nachkommt.

b) Herabsetzung bei Erreichen der Volljährigkeit

Sie kritisieren, dass in zahlreichen Fällen den gerade volljährig gewordenen Menschen sämtliche Merkzeichen aberkannt würden und der GdB auf höchstens 50 gesenkt werde, mit der immer gleichlautenden Begründung: „Die Gesundheitsstörung Morbus Down hat sich gebessert“.

Wie uns das ZBFS mitteilte, kann es diese Behauptung nicht nachvollziehen, da dem ZBFS nicht bekannt ist, auf welche Fälle Sie sich konkret beziehen.“

DK: Natürlich nicht – wir beachten die Privatsphäre unserer Mitglieder und aller Ratsuchenden, die sich an uns wenden.

„Daraufhin hat das ZBFS in seiner Datenbank alle Fälle von Personen mit Trisomie 21 mit Wohnsitz in München ausgewertet, für die bei Erreichen der Volljährigkeit in den Jahren 2018 bis 2023 ein Verfahren durchgeführt wurde.

Dabei handelt es sich insgesamt um 49 Fälle.

  • In 31 davon ist es zu keiner Änderung gekommen. In allen Fällen verblieb der GdB bei 100 (nur in einem bei 80), die Merkzeichen G, B und H standen ausnahmslos weiter zu. In einzelnen Fällen stand zusätzlich auch das Merkzeichen RF oder aG zu.
  • In fünf Fällen wurde der GdB erhöht und/oder weitere Merkzeichen zuerkannt, so dass im Ergebnis der GdB in allen Fällen 100 betrug und mindestens die Merkzeichen G, B und H zustanden.
  • In zehn Fällen wurde das Merkzeichen H entzogen. In drei davon wurde auch der GdB herabgesetzt (auf einen Wert nicht unter 70). Die Merkzeichen G und B wurden jedoch ausnahmslos beibehalten. In zwei Fällen davon wurde das Merkzeichen H nach einem erfolgreichen Widerspruchs- bzw. Klageverfahren doch noch beibehalten.
  • In drei Fällen wurden neben dem Merkzeichen H auch die Merkzeichen G und B entzogen und der GdB herabgesetzt (auf einen Wert nicht unter 50).
    In einem Fall davon war der Widerspruch dagegen in vollem Umfang erfolgreich, so dass letztlich doch die ursprüngliche Feststellung beibehalten wurde.
    In einem weiteren Fall ist der Widerspruch noch anhängig, voraussichtlich wird er dazu führen, dass die Merkzeichen G und B bestehen bleiben.
    Nur in einem der drei Fälle – in dem lediglich eine leichte Intelligenzminderung vorlag – wurde der GdB bestandskräftig von 80 auf 50 herabgesetzt und die Merkzeichen G, B und H entzogen.

Diese Zahlen zeigen, dass nur in sehr seltenen Einzelfällen eine Herabsetzung des GdB und ein Entzug von Merkzeichen stattfindet.

Allgemein ist aber auszuführen, dass die Folgen der Trisomie 21 nicht in allen Fällen unterschiedslos gleich ausgeprägt sind. Außerdem liegen manchmal neben der Trisomie noch andere Gesundheitsstörungen vor. Daraus erklärt sich, dass nicht alle Fälle gleich bewertet werden.

Es ist richtig, dass in den Bescheiden des ZBFS bei Herabsetzungen der Text „Die Gesundheitsstörung xy hat sich gebessert“ in der Begründung erscheint. Im Fall der Trisomie 21 liegt die Besserung in einer höheren Selbständigkeit des Betroffenen. Natürlich ändert sich mit Erreichen der Volljährigkeit nichts an der Chromosomenstörung. Im Schwerbehindertenrecht wird aber nicht die Gesundheitsstörung als solche bewertet, sondern die dadurch bedingte Teilhabebeeinträchtigung (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Sofern keine Hilflosigkeit nach den für Erwachsenen geltenden Regeln vorliegt (was oft genug der Fall ist), wird das Merkzeichen H dann aus den unter Nr. 1c genannten Gründen entzogen.“

DK: Wie von uns ausgeführt, können diese Zahlen nicht stimmen. Die Zahl der Anfragen, die den Down-Kind e.V. erreichen, ist deutlich höher. Wir stellen die Daten des ZBFS hier ganz klar in Frage.

c) Widerspruch zu eigenen Begutachtungen

Zudem verweisen Sie darauf, dass es in Einzelfällen vorkomme, dass das Versorgungsamt eine eigene Begutachtung vornimmt, die den Erhalt des GdB und der Merkzeichen bestätigt, dann aber die eigene Begutachtung drei Jahre später wieder in Frage stellt.

Wenn der Betroffene sich zum Zeitpunkt der Begutachtung in einer Fördermaßnahme o. ä. befindet und die Hoffnung besteht, dass diese zu einer größeren Selbständigkeit führt, ist es denkbar, dass zu gegebener Zeit erneut geprüft wird, inwieweit sich diese Hoffnung erfüllt hat und wie sich das auf die Einstufung nach dem SGB IX auswirkt. Die Begutachtungsuntersuchung stellt dann nur eine Momentaufnahme dar.

In Fällen, in denen hingegen keine Änderung zu erwarten ist, besteht jedoch keine Veranlassung, die Einstufung erneut zu prüfen.“

DK: Dies bedeutet, dass sich kein Mensch mit Behinderung darauf verlassen kann, dass ihm sein Ausweis nicht beliebig wieder aberkannt werden kann. Unabhängig davon, ob er befristet oder unbefristet ausgestellt ist. Behinderungen wie das Down-Syndrom oder das Fragile X verschwinden aber nicht – und genau solche Fälle liegen uns vor.

d) Entzug des Merkzeichens B

Als besonders schmerzhaft beklagen Sie den Wegfall des Merkzeichens B, da bei neuen Wegen immer Übungsfahrten in Begleitung stattfinden müssen. Darüber hinaus seien weder Arztpraxen noch Behörden auf Menschen mit kognitiven Einschränkungen eingestellt, so dass Arztbesuche und Behördengänge immer in Begleitung stattfinden müssen.

Zu diesem Vorwurf teilte das ZBFS mit, dass, wie oben im Schreiben bereits dargestellt, das Merkzeichen B nur in seltenen Einzelfällen entzogen wird. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass Maßstab für das Merkzeichen B nur der Hilfebedarf bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist (§ 229 Abs. 2 SGB IX). Dass eine Begleitung in Arztpraxen und Behörden erforderlich ist, wenn diese nicht auf Menschen mit kognitiven Einschränkungen eingestellt sind, spielt für das Merkzeichen B keine Rolle.“

DK: Tatsächlich wird das Merkzeichen B in sehr vielen uns vorliegenden Fällen aberkannt. Auch hier stellen wir die Zahlen des ZBFS bzw. deren Interpretation durch das Sozialministerium in Frage. Und wozu ist das Merkzeichen B überhaupt gut, wenn nicht zur Begleitung von Menschen mit Behinderung durch Eltern, Bevollmächtigte, Betreuungspersonen und Freunde?

e) Landtags-Drucksache 18/195

In Ihrem Schreiben zitieren Sie aus der LT-Drs 18/195 (Antwort auf eine Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Celina zu verschiedenen Fragen des Feststellungsverfahrens nach § 152 SGB IX). Der in Bezug genommene Abschnitt der LT-Drs lautet vollständig wie folgt:

„7.1 Kommt es insbesondere bei geistig behinderten Menschen vergleichsweise häufig mit dem Erreichen der Volljährigkeit zu einer Herabstufung beim Grad der Behinderung?

7.2 Falls ja, wo liegen die Ursachen und Begründungen für diese Herabstufung bei Eintritt der Volljährigkeit?

Es ist nicht vergleichsweise häufig, dass es insbesondere bei geistig behinderten Menschen mit dem Erreichen der Volljährigkeit zu einer Herabstufung des GdB kommt. In Einzelfällen kann dies jedoch der Fall sein, wenn sich durch Nachreifung und intensive Fördermaßnahmen die Teilhabebeeinträchtigung im Vergleich zur Vorfeststellung wesentlich verringert hat.

In anderen Einzelfällen (z. B. bei Trisomie 21) vergrößert sich im Laufe der Zeit der Unterschied im Vergleich zu einer Entwicklung eines Menschen ohne Behinderung, sodass sich später im Vergleich zur Erstfeststellung (Antragstellung oft bereits nach der Geburt) eine Zunahme der Teilhabebeeinträchtigung ergibt und damit ein höherer GdB festzustellen ist.“

Der letzte Absatz gibt die vom ZBFS unter Nr. 1a geschilderte Praxis wieder (im Regelfall ab Geburt GdB 50, ab dem Kindergartenalter Erhöhung auf GdB 80). Sie machen geltend, dass diese Einschätzung, die Eltern regelmäßig dem Versorgungsamt mitteilen, von diesem ignoriert werde. Mangels Kenntnis der Fälle, die damit gemeint sind, kann das ZBFS diesen Vorwurf nicht nachvollziehen.“

DK: Wie unsere Erfahrungen aus der Beratungstätigkeit zeigen, ist es zumindest in München durchaus häufig, dass es zu einer Herabstufung kommt. Selbstverständlich wahren wir die Privatsphäre der Menschen, die uns um Hilfe und Beratung bitten.

f) Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft

Des Weiteren weisen Sie in Ihrem Schreiben daraufhin, „dass das Versorgungsamt besonders häufig (aber nicht ausschließlich!) die Schwerbehinderung aberkennt, wenn

  • der junge Erwachsene eines der integrativen Schulmodelle in München besucht hat,
  • über keine Pflegestufe verfügt oder
  • (noch) nicht unter Betreuung steht.“

Es dränge sich daher der Eindruck auf, dass junge Menschen mit Behinderungen sowie ihre Angehörigen dafür bestraft werden, dass sie sich für gesellschaftliche Teilhabe einsetzen.

Das ZBFS geht davon aus, dass mit „Schwerbehinderung“ die Schwerbehinderteneigenschaft gemeint ist. Fälle mit Trisomie 21, in denen nach Erreichen der Volljährigkeit die Schwerbehinderteneigenschaft entzogen wurde, sind dem ZBFS nicht bekannt.

Falls damit hingegen der Entzug des Merkzeichens H angesprochen sein sollte, ist nochmals auf die Ausführung oben unter 1c zu verweisen. Wenn kein Pflegegrad besteht, spricht viel dafür, dass eine Hilflosigkeit nach den für Erwachsene geltenden Regeln nicht vorliegt (das ist regelmäßig erst bei Pflegegrad 4 der Fall, bei Pflegegrad 3 im Einzelfall).

Der Besuch eines integrativen Schulmodells oder das (Nicht-)Bestehen einer Betreuung sind für Hilflosigkeit im Erwachsenenalter nicht relevant. Sie könnten aber für GdB und Merkzeichen G oder B eine Rolle spielen. Angesichts der Tatsache, dass das ZBFS nur drei hier in Frage kommende Fälle identifizieren konnte, kann aber die Aussage zur Aberkennung „besonders häufig“ nicht darauf zutreffen.

Sollte z. B. das integrative Schulmodell erfolgreich besucht worden sein, so dass anschließend eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt möglich ist, wäre eine dann ggf. angezeigte Herabsetzung des GdB nicht als „Bestrafung“ zu verstehen, sondern es wird die Teilhabebeeinträchtigung bewertet, die in diesem Fall dann eben geringer ausfällt als z. B. bei jemandem, für den nur eine Tätigkeit in einer WfbM in Frage kommt.“

DK: Hier lässt sich vieles einwenden – neben den „interessanten“ Zahlen des ZBFS vor allem, dass selbst ein Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt die Notwendigkeit für Begleitung bei Behörden- und Arztbesuchen sowie neuen Wegen nicht mindert. Das wissen wir aus eigener Erfahrung.

An diesem letzten Absatz spannend ist außerdem, dass das Sozialministerium damit offen ausspricht, dass das stets wiederholte Credo der bayrischen Kultuspolitik, mit allen Schulformen sei alles möglich, Unsinn ist. Die abschätzige Haltung dieses Ministeriums gegenüber nichtintegrativen Schulen (hier sind wohl unserer Vermutung nach Förderschulen gemeint, nicht Gymnasien) sowie den Tätigkeiten in WfBMs sollte allen Eltern bei der Ausübung sowohl ihres „Wunsch- und Wahlrechts bei der Schulwahl“ als auch – dies ist meine (Marcel Consée) persönliche Meinung – ihres Wahlrechts bei der Landtagswahl im September zu denken geben.

Seit dieser Antwort sind erstaunlich viele Meldungen aus dem Verein gekommen, dass der zurückgestufte SBA wieder auf den früheren Stand bezüglich GdB und Merkzeichen gebracht wurde. Vielleicht hat diese Aktion ja trotz der eigenartigen Ausführungen des ZBFS in einigen Fällen etwas gebracht. Allerdings sind uns auch Fälle bekannt, in denen das ZBFS selbst kurz vor Ablauf einer Befristung absolut gar nicht reagiert. Selbstverständlich wird der Briefwechsel weitergehen, und auch die Presse bleibt am Ball.

„Sehr geehrter Herr Consée, wir hoffen, dass wir Ihnen mit unseren ausführlichen Informationen Antworten auf Ihr Anliegen geben konnten und wünschen Ihnen alles Gute.“

Danke, aber nein!

Update Herbst 2023:

Der letzte Trick: Das ZBFS stellt einen SBA aus, lässt jedoch das Merkzeichen H weg, während B (und eventuelle weitere wie G) bleibt. Tja, für die „Begleitung“ (B) sind die Kommunen zuständig, während H unter anderem steuerliche Vorteile bringt, die das reiche Bayern möglicherweise ärmer machen würden. So stehen die Städte und Kommunen in der finanziellen Pflicht, während Land und Regierungsbezirke fein raus sind.

Leider haben wir noch keine belastbaren Zahlen, wieviele Menschen das betrifft. Wir sind für jede Meldung dankbar, damit wir weiter dieses dicke Brett bohren können.

Und es geht weiter… Demnächst das nächste Update.