Inklusive Nachmittagsbetreuung an Schulen: Ein neues Modell für Bayern?
Dr. Markus Ziegler,
Landesarbeitsgemeinschaft Bayern Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e.V. 23. November 2012
Einleitung
Am Morgen gehen unsere Kinder der Förderschule (Schwerpunkt geistige Entwicklung) des Heilpädagogischen Centrums Augustinus (HPCA) in eine Münchner Partnerklasse in der 6. Jahrgangsstufe, die an einer Mittelschule angegliedert ist. Bei der damaligen Gründung unserer Partnerklasse (ehemals Außenklasse) haben wir Eltern es uns zum Ziel gesetzt, soviel wie möglich gemeinsamen Unterricht mit den Regelschulkindern zu ermöglichen und investieren dafür einiges an Zeit und Geld. Deswegen nennen wir unsere Klassen (nach diesem Prinzip arbeiten weitere 10 Klassen in verschiedenen Jahrgangsstufen) auch gerne integrativ arbeitende Partnerklassen. Dass diese Partnerklassen keine Umsetzung der Inklusion darstellen, darüber sind wir Eltern uns im Klaren. Die Entwicklung unserer Kinder zeigt uns aber, dass wir – und hier sprechen wir für Förderschul- und Regelschulkinder – mit unserem Modell auf einem sehr guten Weg sind. Zumal die Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts mittels Gruppen auch Vorteile birgt. Eine wohnortnahe Beschulung der Kinder ist damit aber auch selbst in München nicht möglich.
Am Nachmittag wurden unsere Kinder mit Förderbedarf in eine Außenstelle der Heilpädago- gischen Tagesstätte des HPCA gebracht. Vier Jahre konnten wir für diese HPT1 Gruppe auf Räumlichkeiten einer katholischen Kirchengemeinde, die direkt an die Schule angegrenzt, zurückgreifen. So blieben die Kinder am Nachmittag zumindest in ihrem Schulviertel. In der 5. Jahrgangsstufe wurden sie allerdings nach der Schule mit einem Bus in eine Schule in einem anderen Stadtbezirk gefahren. Dort wurden sie in einer Gruppe mit ihnen fremden Kindern einer anderen Partnerklasse betreut. Diese Betreuungsform passte im Rahmen der aktuellen Inklusionsdebatte nicht mehr in unser Weltbild. Was am Vormittag mit unserem Ziel, soviel wie möglich gemeinsamen Unterricht zu verfolgen, gut war, konnte doch am Nachmittag nicht schlecht sein. Dieser Aussage hat in unserer Diskussion mit den verschie- denen beteiligten Personen auch niemand widersprochen, aber es gäbe einfach kein anderes Modell, das unseren Kindern mit ihrem Förderbedarf gerecht werden könnte.
Historie
Zum Ende des Schuljahres 2010/2011 wurde uns mitgeteilt, dass unsere Kinder nicht mehr die gewohnte schulortnahe Heilpädagogische Tagesstätte besuchen könnten, sondern in einen anderen Schulbezirk für eine Zusammenlegung zweier HPT Außenstellen gefahren würden. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass die dort vorhandenen Räumlichkeiten uns voraussichtlich nur ein Jahr zur Verfügung stehen würden, da sie keine Betriebserlaubnis durch die Regierung von Oberbayern erhalten hatten.
Wir nahmen Kontakt mit der Regierung von Oberbayern auf, um eine Genehmigung für die Nutzung des Klassenraumes an unserer Mittelschule zu erhalten, damit die Gruppe schulort- nah weitergeführt werden könnte. Unsere Argumente der Einsparung von zusätzlichen Fahrt- kosten; die Belastung der Kinder durch eine weitere Fahrt und das Herausreißen der Kinder aus dem Sozialraum Schule wurden zwar nachvollzogen, fehlende geeignete Räume an der Schule und die langfristige Absicht des Trägers zur Zusammenlegung mehrerer HPT-Außen- stellen gaben den Ausschlag für die Suche nach anderen Lösungen. Alle Beteiligten waren sich in dem Wunsch darin einig, dass der hohe fachliche Standard der HPT beibehalten werden soll.2 Nach der offiziellen Ablehnung unserer Schulräume als geeignete Räume für eine Heilpädagogische Tagesstätte durch den Präsidenten der Regierung von Oberbayern, wandten wir uns im September 2011 an Frau Staatsministerin Haderthauer und Herrn Staatsminister Dr. Spaenle. Nach einem zusätzlichen Telefonat ging es dann ganz schnell und es wurde die Arbeitsgemeinschaft (AG) im Sozialministerium gegründet. In dieser AG waren die in der nachfolgenden Abbildung aufgeführten Stellen (in wechselnder Zusammensetzung) vertreten.
In sieben Treffen unter der Leitung von Herrn Loder aus dem Sozialministerium zwischen September 2011 und Juli 2012 wurden viele ‚Hausaufgaben’ erledigt und viele Ansätze für ein neues Modell einer inklusiven Nachmittagsbetreuung für unsere Partnerklasse der Mittel- schule und eine am gleichen Schulstandort angesiedelte Tandemklasse der Grundschule entworfen, teilweise wieder verworfen, geprüft und am Ende zwei Varianten zur Umsetzung empfohlen. Dies war eine Mammutleistung der beteiligten Personen, jeder brachte seine Expertise optimal ein. Die gemeinsame Arbeit erfolgte in einem Vertrauensverhältnis und alle hatten wir schlussendlich eine gemeinsame Vision. Von Seiten der Eltern entwickelte sich diese gemeinsame Vision an der Sitzung im Dezember 2011, als wir Eltern kurz davor waren, die Arbeitsgemeinschaft zu verlassen. Denn die Eltern waren der Meinung, dass es zu dem zu diesem Zeitpunkt zur Diskussion stehenden Modell keine Kinder geben würde. Im Januar 2012 wurde bei den Eltern der Partnerklassenkinder in München eine Befragung (ca. 75 Eltern) durchgeführt3. Als Ergebnis konnte festgehalten werden (ca. 60% haben eine Rückmeldung gegeben), dass eine gemeinsame Nachmittagsbetreuung von Regel- und Förderschülern und Schülerinnen gewünscht wird. Bereits ab Mai 2012 starteten die ersten Leistungs- und Entgeltverhandlungen mit dem Bezirk Oberbayern und am 1. Juni 2012 die Kooperationsverhandlungen mit dem Träger der Förderschule. Obwohl es mit den Personal- einstellungen durch die Mittagsbetreuung für die Tandemklasse an der Grundschule und die Offene Ganztagesschule der IG Feuerwache für die Partnerklasse an der Mittelschule am Ende sehr eng war, konnte unser neues inklusives Nachmittagsmodell termingerecht zum 17. September 2012 an den Start gehen.
Das neue Modell der inklusiven Nachmittagsbetreuung an Schulen
Im nachfolgenden Abschnitt wird das neue Modell anhand der Aufgaben der beteiligten Partner erläutert:
Der Bezirk finanziert auf Grundlage des SGB XII für Kinder mit einer geistigen Behinderung unter den folgenden Prämissen und Bedarfen:
Das Modell gilt für die Nachmittagsbetreuung an Regelschulen mit Profil Inklusion.
Bei dieser Befragung wurden nur Förderschuleltern befragt. Es wäre sicherlich auch interessant gewesen, die Meinung der Regelschuleltern zu diesem Thema abzuholen.
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Das Modell soll für verschiedene Formen der Nachmittagsbetreuung an Regel- schulen anwendbar sein. Aktuell wird es an einer Grund- und einer Mittelschule erprobt. Nach einem halben Jahr soll ein Termin zum ersten Erfahrungsaustausch stattfinden.
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Die folgenden Leistungen für Kinder mit Behinderung ergänzen ein bestehendes Angebot der schulischen Mittagsbetreuung oder der Offenen Ganztagesschule
Für die Dauer der Öffnungszeitender Nachmittagsbetreuung wird eine qualifizierte Hilfskraft (Kinderpflegerin) gestellt. Sie erhält für indirekte Leistungen (z.B. Teamgespräch, sonstige notwendige Absprachen und Elterngespräche) zusätzlich 2 Stunden pro Woche.
Jedes Kind mit Förderbedarf erhält zusätzlich heilpädagogischen Fachdienst über 90 h pro Jahr. Darin sind ca. 25 % indirekte Leistungen (z.B. Teamgespräch, Förderpläne, sonstige notwendige Absprachen und Elterngespräche) enthalten.
Die Leistungen werden wie folgt beantragt:
Die betroffenen Eltern stellen gemeinsam mit dem Träger der Nachmittagsbetreuung an der Grundschule oder der Offenen Ganztagesschule einen Antrag beim Bezirk für die Kostenübernahme für die Teilnahme an dieser Maß- nahme, die die Anstellung eines Kinderpflegers, einer Kinderpflegerin und die Heilpädagogischen Fachdienste beinhaltet. Beides wird in einer Leistungsver- einbarung mit dem Träger der Nachmittagsbetreuung festgelegt und von der jeweiligen Nachmittagsbetreuung erbracht. Der Heilpädagogische Fachdienst wird bei diesem Modell im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung vom Heilpädagogischen Centrum Augustinum erbracht, könnte aber auch von der Nachmittagsbetreuung an niedergelassene Heilpädagogen vergeben werden.
Für diese Leistungen ist keine Offenlegung des Einkommens der Eltern notwendig.
Nachmittagsbetreuung (Mittagsbetreuung oder Offene Ganztagesschule):
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Schließt mit dem Bezirk eine Leistungs- und Entgeltvereinbarung für eine Kinder- pflegerin und den Heilpädagogischen Fachdienst ab und ist darüber berichtspflichtig.
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Schließt mit dem Augustinum einen Vertrag zur Stellung des Heilpädagogischen Fachdienstes ab.
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Verpflichtet die Eltern der Kinder mit Förderbedarf im Antrag, dass das Kind für ein Schuljahr angemeldet ist.
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Stellt die Kinderpflegerin / Kinderpfleger ein (ggf. halbe Stelle von der Schule für die Betreuung am Vormittag z.B. in der Tandemklasse und halbe Stelle für die Nachmittagsbetreuung)
Augustinum – Träger der HPT:
- Stellt für die Nachmittagsbetreuung den Heilpädagogischen Fachdienst.
Eltern der Kinder mit Förderbedarf:
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Melden ihre Kinder an der Nachmittagsbetreuung an. Bei Partnerklassen muss die Rektorin der Förderschule der Aufnahme an z.B. der Offenen Ganztagesschule zu- stimmen (ist in normalem Aufnahmeantrag enthalten).
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Stellen Sozialhilfeantrag (analog bei Anmeldung für eine Heilpädagogische Tages- stätte) beim Bezirk für die Leistungserbringung von der Nachmittagsbetreuung (hier war ein neuer Antrag notwendig, da dieses neue Modell nicht in den Standardantrag passte).
Regelschule:
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Stimmt dieser Form des schulischen Angebots zu.
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Stellt die Räumlichkeiten für die Nachmittagsbetreuung.
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Bemüht sich um den Fahrdienst nach der Nachmittagsbetreuung (s. dazu die Ausführungen im Kapitel Aktueller Stand und Herausforderungen).
Augustinum – Förderschule:
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Im Falle einer Partnerklasse wird der Antrag zur Aufnahme in die Offene Ganztagesschule der Regelschule mit unterschrieben (Schulleiter/in der Regelschule trägt die Verantwortung auch für die Kinder, die morgens die Partnerklasse der Förderschule besuchen)4.
Sozialministerium:
Nur für das Modellprojekt:
Beauftragt die Katholische Stiftungsfachhochschule München, das Modellprojekt wissenschaftlich zu begleiten und stellt dafür die Mittel bereit. Der Bezirk Oberbayern beteiligt sich inhaltlich und finanziell an der Begleitforschung.
4 S. Ziffer 1.2.3 der KM-Bekanntmachung zur Offenen Ganztagesschule vom 21.04.2010, nach der die Schulleitung der Regelschule (mit Offene Ganztagesschule) die Verantwortung auch für die Kinder in der Offenen Ganztagesschule übernimmt, die nicht Schüler der Regelschule sind. Bei der Mittagsbetreuung trägt die Verantwortung der Träger der Mittagsbetreuung.
Weitere Anmerkung:
Im Hinblick auf die Beförderung, aber auch im Hinblick auf sonstige Besonderheiten, die den Schulaufwandsträger der Regelschule betreffen, sollte in jedem Fall der kommunale Schulaufwandsträger der Regelschule und im Falle der Partnerklasse der kommunalen Schulaufwandsträger der Förderschule bzw. hier der private Schulträger einbezogen werden. In unserem konkreten Fall waren es die Stadt München und das Augustinum.
Das nachfolgende Bild verdeutlicht das neue Modell:
Aktueller Stand und Herausforderungen
Wir Eltern waren natürlich begeistert, als die neue inklusive Nachmittagsbetreuung an einer Mittagsbetreuung (Grundschulbereich) und an einer offenen Ganztagesschule (Mittelschule) am Montag, den 17. September 2012 endlich startete. Nach wenigen Tagen war festzustellen, dass noch ein paar Themen justiert werden müssen. Im Folgenden möchten wir exemplarisch einige kurz aufgreifen:
Notwendige Angleichung der Stundentafeln als Herausforderung an die Schulsysteme (Förderschule und Regelschule)
Die Kinder der Partnerklasse gehören zur Förderschule und unterliegen somit deren Stundenplan. Die Anzahl der Wochenstunden ist aber teilweise deutlich geringer als an einer Regelschule. Hier müssen Lösungen gefunden werden, damit auch eine inklusive Nachmittagsbetreuung möglich wird und es nicht zu Betreuungslücken kommt.
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Organisation im Ablauf
Aktuell haben die Mittagsbetreuung und die Offene Ganztagesschule konzeptionell bedingte feste Abläufe in der Nachmittagsgestaltung. Es ist eine Herausforderung die Kinder mit Förderbedarf in die bestehenden Abläufe zu integrieren und allen Ansprüchen dabei gerecht zu werden (z.B. kann nicht zu jeder Zeit eine heilpädagogische Förderung erfolgen). -
Einbindung der heilpädagogischen Förderung
Bisher gab es in der vorhandenen Nachmittagsbetreuung der Mittagsbetreuung oder Offenen Ganztagesschule keine heilpädagogische Förderung. Es stellt sich somit die Frage, wie diese in den Tagesablauf eingebaut werden kann. Außerdem ist noch nicht ganz klar, wie die heilpädagogischen Maßnahmen ausgestaltet werden können. Aus Sicht der Eltern ist es unerlässlich, dass die heilpädagogische Förderung keine Einzelförderung bleibt, sondern auch gruppendynamische und soziale Aspekte aus der Gesamtgruppe berücksichtigt, bei denen die Förderkinder Unterstützung benötigen. Hier gilt es die vorhandenen Konzepte andauernd zu hinterfragen und das optimale Unterstützungsangebot für die Kinder zu entwickeln. -
Personalsituation
Aktuell zeigt es sich, dass die vorhandene Personaldecke nicht ausreicht. Von den Eltern wird nun eine finanzielle Unterstützung mit Hilfe von Sponsoren (u.a. die
G. und H. Randlkofer Stiftung) geprüft, um zumindest in der Anfangszeit einen besseren Personalschlüssel zu ermöglichen. Dieser Punkt ist in Nachfolgetreffen der AG Sozialministerium weiter zu hinterfragen. -
Elterngespräche
Noch haben keine Elterngespräche mit den Betreuern und der heilpädagogischen Fachkraft stattgefunden (Stand 26. Oktober 2012). Hier ist noch offen, was solche Gespräche beinhalten sollen (Fördergespräche; Förderplanerstellung etc.). -
Materialausstattung
Die Eltern der Förderschüler und Schülerinnen stellen mithilfe von Spendern Finanzmittel zur Verfügung, die die beiden Nachmittagsgruppen bei der Beschaffung notwendiger Materialien (z.B. Montessori-Materialien) unterstützen. -
Wissenschaftliche Begleitung
Vom Sozialministerium wurde eine wissenschaftliche Begleitung der neuen inklusiven Nachmittagsbetreuung durch eine Hochschule (Katholische Stiftungsfachhochschule München) initiiert und vom Sozialministerium mit Beteiligung des Bezirks finanziert. Die Ausgestaltung ist zum aktuellen Zeitpunkt noch in der Konzeptionsphase.
Fahrdienst
Wer ist für den Transport der Kinder nach der inklusiven Nachmittagsbetreuung zuständig? Diese Frage war nicht so einfach zu beantworten und hat einiges an Klärungsaufwand erzeugt.
Offene Ganztagesschule
Die Offene Ganztagesschule ist, auch wenn sie von einem anderen Träger im Auftrag der Schule durchgeführt wird, eine Veranstaltung der Schule. Somit ist der kommunale Schulaufwandsträger der (Regel)Schule für die Finanzierung zuständig. In unserem Falle der Partnerklasse an der Mittelschule wird der Fahrdienst jedoch durch das Augustinum organisiert (genauso wie bei den Schülern der Förderschule, die danach eine HPT besuchen).
Mittagsbetreuung
Die Partnerklasse der Grundschule wurde zum Schuljahr 2012/2013 in eine Tandemklasse umgewandelt. Somit sind die Kinder formal der Regelschule zugeordnet. In diesem Falle wurde die Organisation des Fahrdienstes von der Stadt übernommen5.
Fazit
Das an der Grundschule und der Mittelschule in der Schrobenhausenerstraße in München neu ins Leben gerufene inklusive Nachmittagsmodell wurde erfolgreich für eine Tandem- und eine Partnerklasse eingeführt. Der Weg war sehr steinig, aber zumindest sind nun z.B. die notwendigen Antragsformulare im Bezirk Oberbayern vorhanden. Wir hoffen, dass unser Modell ein gutes Beispiel für ganz Bayern sein kann.
Unerlässlich für den Erfolg war der Wille der beteiligten Personen das Thema erfolgreich für die Kinder umzusetzen. Dafür möchten wir Eltern uns bei allen Mitwirkenden recht herzlich bedanken!
Die Beförderung nach der Mittagsbetreuung ist nicht verpflichtend.